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Die Einstellung des Therapeuten zum Klienten 2004

Persönliche Betrachtungen über die Therapeutenvariablen

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Persönliche Betrachtungen über die Therapeutenvariablen

"PRIMUM VIVERE, DEINDE PHILOSOPHARE" Dieser alte lateinische Spruch besagt: Zuerst muß man leben, dann kann man erst philosophieren. Man könnte ihn aber auch so deuten: Zuerst kommt das Leben und dem folgt die Philosophie. Wie Du lebst, das bestimmt auch Deine Philosophie. So hängt auch die Therapierichtung, die man bevorzugt, wie die Berufswahl selbst, mit dem Leben zusammen, das man geführt hat und führt. Also mit dem Lebensthema, das man hat.

Bei meiner Lebensgeschichte ist es also kein Zufall, daß ich mich als erstes in die VERHALTENSTHERAPIE vertiefte, eine Methode, die nüchtern und sehr zielstrebig auf die Problemlösung losmarschiert. So, wie wir es damals gelernt haben, v.a. durch Anleitung zur schrittweisen Veränderung der Verhaltensgewohnheiten. Man wühlt also nicht in der Vergangenheit, sondern erstellt mit dem Klienten Verhaltenspläne, die man dann mit ihm kontrolliert. Eine vergleichsweise direktive Methode, deren Hauptproblem der Widerstand des Klienten ist.

Widerstand gegen die Anordnungen meiner autoritären Erzieher in Familie und Internat war ein Hauptkennzeichen meiner Kindheit und Jugend. So hatte ich als erstes eine Therapiemethode gewählt, die dem Stil meiner Erzieher nahe kam: man bewahrt ja bekanntlich nicht nur die Eigenschaften, Einstellungen und Gefühle, die man als Kind hatte, sondern übernimmt auch die seiner Umgebung und internalisiert sie. Sodaß man auf diesem Weg als Erwachsener z.B. sowohl Opfer ist wie Täter wird.

I Bald darauf lernte ich eine Therapiemethode kennen, die mich sofort faszinierte und die ich als die Mutter aller Therapien bezeichnen möchte. Das ist zwar nicht historisch so, aber die Therapeutenvariablen gelten m.E. für jedwegliche Therapie. Die Richtung nannte sich ursprünglich

DIE NON-DIREKTIVE THERAPIE (Rogers,1942)

War die Verhaltenstherapie sozusagen von den Eltern in mir gewählt worden (ich schätze diese lerntheoretisch begründete Richtung übrigens nach wie vor und arbeite auch immer wieder darnach), war das Kind in mir begeistert von der KLIENTENZENTRIERTEN THERAPIE (Rogers,1951), wie sie sich später nannte. Die Therapieform mit der größtmöglichen positiven Wertschätzung - meinem Kindertraum. Zudem lag diese Tendenz zur Zeit der 68er Bewegung, in der ich politisch aktiv engagiert war, in der Luft. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, angefangen von Truax (1967), die aufzeigten, daß jene Gespräche und Therapien besonders erfolgreich waren, in denen die Psychotherapeuten die drei wesentlichen Verhaltensvariablen der GESPRÄCHSPSYCHOTHERAPIE (das ist der Name, der von Tausch/ Tausch 1960 im deutschen Sprachraum eingeführt wurde) praktiziert wurden. Was sind nun die aus meiner Sicht unerläßlichen Grundhaltungen des Psychotherapeuten (nach Rogers,1957):

o VERSTEHEN (durch Empathie schrittweise Annäherung an die inneren Gefühle des Klienten)

o WERTSCHÄTZUNG (Bedingungslose Akzeptanz, Achtung, Wärme, unabhängig davon, welche Gefühle der Klient zum Ausdruck bringt)

o ECHTHEIT (Kongruenz, Übereinstimmung der Äußerungen des Therapeuten mit seinem Fühlen und Denken)

Natürlich kann beim real existierenden Therapeuten die Echtheit gelegentlich in Konflikt mit der unbedingten Wertschätzung und vor allem der Einfühlung kommen. In dem Fall plädiere ich - als kleineres Übel - für die Stimmigkeit, daß ich z.B. einen Ärger äußere, den ich gerade spüre, und nicht verständnisvoll tue.

Diese drei Kernvariablen werden inzwischen als Wirkfaktoren jeder Psychotherapie anerkannt. (Biermann-Rajtjen et al, 1997) Die jüngere Psychotherapieforschung (Elliott et al, 1993, Beutler et al, 2003) fand Hinweise, daß sich die Art der Beziehung zwischen Therapeut und Klient wesentlich mehr auf die Effizienz auswirkt als die angewandte Therapierichtung (das Äquivalenzparadox). Selbst Grawe nannte in einem Vortrag 1994 die therapeutische Beziehung als erste der drei Haupt-Wirkkriterien (neben der Überzeugung des Therapeuten von seiner eigenen Richtung und dem Glauben des Klienten an die Wirksamkeit der Therapie).

Der Hintergrund der klientenzentrierten wie auch der anderen Richtungen der sogenannten HUMANISTISCHEN PSYCHOLOGIE wie der Gestalttherapie nach Perls ist ein Menschenbild, das mich besonders fasziniert. Kurz ausgedrückt könnte man sagen:

Wer ein Problem hat, trägt auch die Lösung schon in sich.

Das Unbewußte wird als unerschöpfliches Potential des Menschen aufgefaßt, als die Fülle der Weisheit, die jeder in sich trägt und die schrittweise gehoben werden kann. Der Mensch ist einzigartig, prinzipiell gut und wachstumsfähig und entwickelt sich durch Interaktionen mit anderen Menschen.

Dieses Menschenbild hat eine Menge Konsequenzen für das Verhalten des Therapeuten: Ich bin nicht der Oberlehrer, der die Lösung in den Klienten einpflanzen muß, sondern ich bin nur behilflich, daß er die bereits vorhandene Lösung auspackt, ent-wickelt. Und das geschieht in der personenzentrierten Richtung hauptsächlich durch einfühlendes Reverbalisieren der Äußerungen des Klienten.

Seit Jahrzehnten weiß man, wie sehr Einstellung und Erwartung des Leiters die Ergebnisse von einzelnen und Gruppen (sogar von Ratten) beeinflußt. Wenn ich als Therapeut dem Klienten wenig zutraue, wird er meist auch weniger schaffen.

Nun gibt es aber in jedem Menschen innere Konflikte und jeder Klient, der zur Therapie kommt, kommt deswegen, 1.) weil er was verändern will UND 2.) weil es in ihm einen (vielleicht unbewußten) Teil gibt, der nichts verändern will. Das erste ist klar: man wendet ja nicht Zeit, Geld und emotionelle Aufregung auf, wenn man nichts Neues wollte. Das zweite erkennt man u.a. daran: hätte er was verändern wollen, hätte er's ja schon getan. Den Begriff "Widerstand", den Freud dafür verwendet, finde ich bedenklich, weil er impliziert, daß der Therapeut wisse, was das Richtige und das Bessere für den Klienten wäre, dem dieser eben widerstände.

Ich halte es für eine Falle, als Therapeut z.B. für die Veränderung Partei zu ergreifen. Denn ich mache dadurch den anderen Teil des Klienten zu meinem Gegner. Und so wird aus dem internen Konflikt des Klienten einer zwischen mir und dem von mir nicht so geschätzten Teil des Patienten. Und statt daß der Klient sich bewußt wird, daß die Gegensätze in ihm selbst liegen, und selbst an deren Lösung arbeitet, arbeite nun ich gegen den Widerstand (eines Teiles) von ihm. Vergeblich. Denn der einzige, der den inneren Konflikt lösen könnte, ist der Klient selbst.

Dabei allerdings begleite ich ihn aktiv, WENN er dies wünscht. Ich frage also immer wieder mal vor Interventionen, ob er zustimmt. Die Tatsache, daß er ja zum mir gekommen ist, reicht m.E. nicht aus. Wenn ja, (was nicht immer der Fall ist!), leite ich ihn an, mache auch Vorschläge etc., wobei ich mich sowohl von den verbalen wie nichtsprachlichen Mitteilungen des Klienten wie von meiner eigenen Intuition und meinen Körpersignalen als Meßinstrument leiten lasse.

So vertrete ich ein therapeutisches Vorgehen, wo man eine Atmosphäre von Vertrauen schafft, in der jemand wachsen und u.a. mit Hilfe der therapeutischen Interventionen Schritte machen kann, WENN er will. Wenn nicht, ist es auch recht. Ich mache Angebote und er hat die Freiheit, etwas zu nehmen, wenn er es brauchen kann oder nicht, wenn es nicht in sein System paßt.

"Do'nt push the river!" sagt Perls (1974), denn der Fluß rinnt ohnehin. Und als Warnung an uns Kümmeranten: "Jeder Therapeut, der nun hilfreich sein will, ist von allem Anfang an verloren. Der Patient wird alles Mögliche tun, um dem Therapeuten das Gefühl zu geben, daß er unzureichend ist; denn der Patient muß ja seinen Ausgleich dafür haben, daß er den Therapeuten braucht. Also verlangt der Patient immer mehr Hilfe vom Therapeuten, er treibt ihn immer mehr in die Enge, bis er entweder Erfolg damit hat - was ein weiteres Mittel der Manipulation ist - oder aber, wenn ihm der Therapeut den Gefallen nicht tut, ihm wenigstens das Gefühl gibt, unzureichend zu sein. Er wird den Therapeuten immer mehr in seine Neurose hineinziehen, und der Therapie wird kein Ende sein."

Vor dieser Bevormundung warnt auch das vorzügliche (und amüsant geschriebene) "Triffst du Buddha unterwegs..." von Kopp (1976), wobei in der englischen Originalausgabe der Titelsatz zu Ende geführt wird: "Kill him!" Will heißen: wenn Du einen triffst auf der Straße, der besser weiß als Du, was für Dich gut ist, dann töte ihn!

Er betont: "Deshalb beginne ich meine Arbeit immer mit zwei Vorsätzen: Ich will auf mich selbst achten und es soll mir Vergnügen machen. Die treibende Kraft unserer Interaktion muß der Patient sein. Es ist, als stünde ich im Türrahmen meiner Praxis und wartete. Der Patient kommt herein, stürzt auf mich los und versucht verzweifelt, mich in sein Hirngespinst, daß ich mich um ihn kümmern muß, hineinzuziehen. Ich trete zur Seite. Der Patient fällt hin, enttäuscht und verwirrt. Jetzt hat er die Möglichkeit, aufzustehen und etwas Neues zu versuchen. Wenn ich bei diesem psychotherapeutischen Judo geschickt genug bin, und er mutig und ausdauernd genug ist, wird er vielleicht neugierig auf sich selbst, lernt, mich zu sehen, wie ich bin, und fängt an, seine Probleme selbst zu lösen."

Ich schätze die von Cöllen entwickelte Paarsynthese sehr. Sollte aber sein Aufruf "Laß uns für die Liebe kämpfen!" (1984) bedeuten, daß auch der Therapeut kämpfen solle, dann entspricht die Verwendung der Mehrheitsform der berühmten Frage des Arztes an den Patienten: "Haben wir heute schon einen Stuhl gehabt?"

Mir fällt auf, daß gerade die avancierten Therapeuten, die auf Grund ihrer mehrfachen Ausbildung und langen Erfahrung sicherer sind und schnell spüren, worumÕs beim Klienten geht, ihm dies direkt vor die Nase knallen, statt achtungsvoll den Klienten die Lösung selbst erarbeiten zu lassen., was zwar länger dauert, dafür aber viel besser verankert ist.

Vielleicht ist das einer der Gründe, warum sich bei einer kürzlich durchgeführten Untersuchung zeigte, daß die Therapien bei Anfängern ähnlich gute Ergebnisse brachten wie die bei erfahrenen Psychotherapeuten: weil die Jungen noch unsicherer und dadurch vorsichtiger sind und vielleicht achtungsvoller mit den Klienten umgehen als die Erfahrenen?

M.E. ist es richtig, auch in der Psychotherapie das SUBSIDIARITÄTSPRINZIP anzuwenden: das ist ein zentraler Begriff aus der katholischen Soziallehre, der aus der römischen Kriegsführung kommt und besagt, daß z.B. die Reiterei das und nur das erledigen soll, was die Fußkämpfer nicht schaffen, kurz: daß die übergeordnete Instanz nur bei dem hilfreich eingreifen und dafür die Verantwortung übernehmen soll, was der untergeordneten zu viel ist.

Letzten Endes hängt freilich alles (s.o.) vom Menschenbild ab: betrachte ich meine Klienten als arme Hunde, die ohne meine Hilfe (sei es durch freundliches Zureden, durch tatkräftiges Aufheben oder auch durch Tritte) nicht auf die Beine kommen, dann wäre es unverantwortlich und zynisch, es nicht zu tun.

Meiner Erfahrung nach ist eine dermaßen defizitorientierte Sicht des Menschen unrealistisch und die daraus folgende Fürsorge und Verantwortungsübernahme wird, obwohl gut gemeint, oft als beleidigend, geringschätzend und bevormundend erlebt.

Eine Kollege hatte während einer Ausbildung folgenden Traum: "Ich reite auf einem wilden Hengst. Obwohl es schwierig ist, ihn zu führen, ein tolles Gefühl! Da kommt von hinten ein Pferdehändler und bietet mir an, mein feuriges Pferd durch einen sanften Esel einzutauschen. Ich kriege eine ungeheure Wut, zeige ihm den Finger, schreie ihn an: âHau ab, Du Wichser!!Ô und galoppiere davon. Zurück bleibt verständnislos der Händler: ÔIch wollte ja nur helfen.Ô" Als die Trainerin darauf fürsorglich antwortet: "Wir werden Dich schon auf das stolze Pferd setzen" erhält sie die Antwort: "Nein! Da nehme ich schon selber Platz!"

Auf das entschuldigende "ICH WILL JA NUR DEIN BESTES" folgt verständlicher Weise oft die Antwort: "ABER DAS GEBE ICH DIR NICHT!"

Immer wieder einmal erzählt mir jemand seine Entrüstung, daß eine wohlmeinende Gruppe ungefragt für ihn gebetet habe. Zur Liebe gehört auch die Achtung, sonst wird sie bevormundend.

Man spricht ja auch vom "Helfersyndrom" und nicht "-Symptom", weil immer mindestens zwei Vorgänge passieren: Ich gebe, das liegt offen - um zu kriegen: das ist dem Helfer meistens verborgen. Aber der Empfänger merkt es und ist verstimmt.

Aufdringliche Helfer haben selbst eine Not: sie brauchen das Helfen z.B. zur Förderung ihres Selbstwertes etc. Nach außen schaut es so aus, daß sie selbstlos alles für die anderen tun, aber sie helfen anderen, statt sich selber zu helfen. Sie spüren (meist seit Kindesbeinen) sehr schnell die Not von anderen und werden aktiv. Sie fragen sich aber selten, wieÕs ihnen selber geht und was sie selbst gerade brauchen. Ich weiß davon ein Lied zu singen: der Helfertick ist m.E. ja einer der Hauptgründe, warum jemand einen helfenden Beruf ergreift und sich den ganzen Tag Probleme anderer anhört. Was vielen "Normalen" ohnehin eigenartig vorkommt, daß man darauf scharf ist. Wenn die Ausbildung gut ist, wird man lernen, dies in den Griff zu kriegen. Aber die Tendenz, zu bevormunden, bleibt immer eine Gefahr.

Es stimmt, daß viele zum Psychotherapeuten kommen wie üblicherweise zum Arzt: "Hier ist mein Problem. Machen Sie etwas damit!" Das ist eine Falle.

Murphy jr. schreibt 1960 über den Therapeuten: "Er ist nur Beobachter und Katalysator; es liegt nicht in seiner Macht, den Patienten zu 'heilen'. Er kann dessen angeborener Fähigkeit, von sich aus gesund zu werden, nichts hinzufügen. Wenn er es versucht, stößt er auf hartnäckigen Widerstand, der die Behandlung nur verzögert. Der Patient hat bereits alles, was er braucht, um gesund zu werden...Da er (der Therapeut) nicht für die Heilung 'verantwortlich' ist, kann er sich in aller Ruhe an dem Schauspiel der fortschreitenden Gesundung erfreuen."

Es ist eine Falle, wenn der Klient "nichts tut", selber aktiv zu werden. Er wird immer weniger tun und ich immer mehr. Abgesehen vom Umgang mit Bewußtlosen und Nicht-Zurechnungsfähigen: ein Teufelskreis.

Selbst in der Arbeit mit Klienten, die zur Therapie (gegen ihren Willen) verpflichtet wurden - ich habe darin jahrelange Erfahrung - ist es nicht zielführend, zu pushen. Wohl wird man hier aktiv werben, die Möglichkeiten und Chancen ins Felde führen, um sie zu einem Entwicklungsschritt zu bewegen. Ein aktives Angebot, mehr nicht. Selbst einem Kleinkind, das gehen lernt, ist nicht geholfen, wenn ich es trage. Es muß die Schritte selber tun. Man kann nur wohlwollend zur Seite stehen.

Kopp schreibt über den Zaddik, den geistigen Führer der Chassidim: "Er verlangte von den Schülern nicht, daß sie ihm ähnlich würden, sondern sich selbst ...Was der Guru dem Suchenden an Wissen voraus hat, ist, daß wir alle Pilger sind. Es gibt keine Schüler und Lehrer."

Das ist natürlich vergleichsweise eine recht bescheidene Position des Therapeuten, hauptsächlich als Facilitater, der nicht vergessen hat, daß er selbst auch ein Lernender, unterwegs und in Entwicklung ist.

Für den Klienten hat das den Vorteil, frei wählen zu können und keinem Druck ausgesetzt zu sein. Jahrelang stellte sich bei jeder Supervision heraus, wenn ich ermitteln wollte, warum der Fortgang einer Therapie stockte, daß mir der Fortgang so wichtig war, z.B. weil ich das Leiden des Patienten schwer mitanschauen konnte etc., und ich dadurch selbst den natürlichen Fluß behinderte - natürlich, ohne daß ich dies wollte.

Es ist also effizienter für den Klienten, wenn man sich nicht in das Tempo der Entwicklung einmischt, und die Arbeit wird zudem leichter für den Therapeuten. Durch Nichteinmischung und Nichtparteinahme sorgt und ärgert man sich weniger, wenn Klienten nicht die Richtung einschlagen, die man selbst wählen würde, und ist dadurch weniger belastet. Burnouts von Kollegen, die ich öfters behandle, haben immer diesen Hintergrund.

Siehe dazu auch "Helfersyndrom und Burnoutgefahr" von Schmidbauer (2002). Burish (1988) empfiehlt ein distanziertes Engagement und Schulz von Thun (1989) die Fähigkeit zu üben, sich abzugrenzen.

Es geht hier um eine Auseinandersetzung, die sich durch die ganze Ideengeschichte zieht: In der Erziehung, in der Gruppendynamik, in der Politik, im Zusammenleben: Führen und Lenken vs. Sein Lassen und Annehmen, z.B. Persönlichkeits-BILDUNG vs. Persönlichkeits-ENTFALTUNG. Es liegt auf der Hand, daß wir in unserer Kultur seit der Renaissance einseitig das Lenken kultiviert und in gewisser Weise zu einer Hochblüte gebracht haben - mit einer Fülle von Vorteilen. Aber auch mit einer gewaltigen Schlagseite. Daß nur durch nichtstuendes, absichtsloses, wohlwollendes Da-Sein etwas bei sich selbst oder bei einem anderen verändert werden könnte, wird bei uns im Westen für unmöglich gehalten und belächelt.

Das könnte man nun vielleicht mißverstehen, als ob die Interventionen des Therapeuten unwichtig und unerheblich wären. Es gibt nämlich kein wirklich "non-direktives" Verhalten. Deshalb hat ja die personenzentrierte Richtung nicht nur ihren Namen gewechselt, sondern sich auch sonst in erheblichem Maße weiterentwickelt. Wenn sogar ein freundliches "Hm" , vom Zuhörer nach jedem Hauptwort ausgesprochen, die Anzahl der daraufhin verwendeten Hauptwörter signifikant erhöht, wird klar, daß Interventionen sehr wohl Gefühle, Denken und Verhalten des Klienten steuern können.

Antwortet z.B. der Therapeut auf den Satz des Klienten "Meine Frau ist ein Scheusal" mit: "Na, na, so schlimm wird es wohl auch nicht sein!" zwingt er ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit, dem Therapeuten zu beweisen, wie schlimm sie ist - was einer Problemlösung nicht besonders dienlich ist. Reagiert der Therapeut aber nicht mit Gefühlsverneinung, sondern z.B. mit der Einfühlung "Sie haben jetzt eine ganz schlimme Zeit mit Ihrer Frau?", atmet der Klient vielleicht erleichtert auf, fühlt sich verstanden (ohne daß ich ihm zugestimmt hätte), wird erfahrungsgemäß in der Folge zunehmend konkreter und bereiter, seinen eigenen Anteil an dem Problem wahrzunehmen und so fähiger, das Problem zu lösen. Wenn mein Einfühlungsversuch nicht zutreffen sollte, wird mich der Klient schon aufklären.

Ich gestehe, daß ich dem Steuern schon viel abgewinnen kann, es liegt mir auch sehr (s.o.), aber beim Therapieren bevorzuge ich nun seit langem das oben beschriebene Menschenbild und das daraus resultierende therapeutische Verhalten - soweit ich es überhaupt fertig bringe. In meinen ersten Jahren als Trainer verging kaum eine Gruppentherapiewoche, in der ich nicht wütend geworden war: Jetzt kommt er extra her und macht dann den Schritt nicht, der ihn aus dem Problem herausführen würde!

In den letzten Jahren bemühe ich mich, mich nicht einzumischen, ob jemand jetzt einen Schritt macht oder nicht und wenn ja, wie groß er sein soll und wie lange er dazu braucht - auch eingedenk der Tatsache, wie lange ich selbst für meine eigenen Entwicklungsschritte brauche und wie gut es mir tut, wenn mein momentaner Zustand vom Therapeuten nicht als furchtbares Defizit definiert und mein eigenes Entwicklungstempo respektiert wird.

II Bestärkt wurde ich auf dem Weg, als ich die Erkenntnistheorie des

KONSTRUKTIVISMUS

näher kennen lernte. Nie werde ich jene Nacht vergessen, in der ich mit Faszination u n d Widerstreben Maturana / Varela's eben erschienene deutschsprachige Übersetzung ihres Buches "Der Baum der Erkenntnis. Wie wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen - die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens" (1987) zu verstehen suchte. Im Gegensatz zur bisherigen Auffassung, daß unsere Sinne die Außenwelt abbilden, zeigen die radikalen Konstruktivisten, daß, was wir wahrnehmen und erkennen, von unserem Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat abhängt, ja konstruiert wird.

"Die Wiese ist grün" sagen wir. Ein Farbenblinder: "Nein, rot!" Und ein Hund, wie die Biologen sagen, sieht sie grau. Wer hat recht? Wie ist sie nun wirklich? Wir wissen es nicht. Das jeweilige Auge entscheidet, konstruiert die Wirklichkeit: Autopoiese, Selbstmachung. "Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden." schreibt Von Foerster 1993.

Auch diese Zeilen sind selbst nur eine von vielen möglichen Wirklichkeitskonstruktionen. Und was Sie von diesem Aufsatz lesen, aufnehmen, für sich verarbeiten und mit Ihrem bisherigen Wissen verknüpfen oder ob nicht, liegt völlig außerhalb meiner Kontrolle. Würde man verschiedene Leser fragen, würde man erkennen, daß jeder seinen eigenen Text erzeugt hat. Vgl. wenn Sie die Verfilmung eines Buches sehen, das Sie gelesen haben. Der Sprachwissenschafter Von Glasersfeld (1987) begründet sein "Heranwachsen zum Konstruktivismus" so, daß er es als Kind mit mehreren Sprachen zu tun hatte und schon in der Schule verstand, daß "das Eindringen in eine fremde Sprache nicht nur andere Wörter und andere Grammatik mit sich brachte, sondern auch eine neue Art des Sehens, Fühlens und somit eine neue Art, Erfahrung begrifflich zu fassen."

Damit kam er (so Prieb 2000) an den Kern der Sapir-Whorf-Hypothese, die inhaltsgemäß besagt, die Struktur der Welt werde durch die Muttersprache geprägt. Menschen müssen also die Welt so sehen und beschreiben, wie es die Muttersprache festlegt und jede Sprache bedeutet eine andere begriffliche Welt. "Die Befreiung von einer einzigen Muttersprache erleichtert in vieler Hinsicht das unmittelbare Verständnis bestimmter Aspekte des Konstruktivismus, die all jenen sehr viel Mühe bereiten, deren Weltanschauung durch eine einzige Sprache begrenzt wird".

Watzlawick hatte schon 1976 gefragt: "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?"Zu der Zeit arbeitete ich als Paartherapeut nach Mandel et al (1971), indem ich die Kommunikationsregeln der personenzentrierten mit der Verhaltenstherapie verband. Beginnend 1977 hatte ich die mich nach wie vor faszinierende und praktizierte Gestalttherapie in mich aufgenommen und dann eine systemtherapeutische Ausbildung nach Satir absolviert.

Aber die Erkenntnisse der Konstruktivisten revolutionierten vieles und waren natürlich ein Fressen für uns Paar- und Familientherapeuten. Warum? Häufig geht es in problematischen Beziehungen ja um die Frage: Wer hat Recht? Aber ausgerechnet diese Frage erscheint aus konstruktivistischer Sicht absolut sinnlos und nicht beantwortbar, weil jeder eben seine eigene Wirklichkeitskonstruktion hat. Und von vornherein ist keine besser oder wahrer als die andere, weil man ja sowieso nicht weiß, was wirklich ist. Das entspannt meist enorm: jede Sichtweise ist legitim und gleichwertig.

Watzlawick sagt, "daß der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, die gefährlichste aller Selbsttäuschungen ist; daß es vielmehr zahllose Wirklichkeitsauffassungen gibt, die sehr widersprüchlich sein können, ... von denen naiv angenommen wird, daß sie der 'wirklichen' Wirklichkeit entsprechen, ... obwohl die alle das Ergebnis von Kommunikation und nicht der Widerschein ewiger, objektiver Wahrheiten sind."

Therapieziel nach Watzlawick: "Der Konstruktivismus ... legt nahe, daß die leidvollen Auswirkungen einer bestimmten gegenwärtigen Als-ob-Fiktion (die ihren Ursprung natürlich irgendwann in der Vergangenheit hatte) durch jene einer anderen Als-ob-Fiktion ersetzt werden müssen, die eine erträgliche Wirklichkeit erschaffen. An die Stelle von Wirklichkeitsanpassung im Sinne einer besseren Anpassung an die vermeintliche 'wirkliche' Wirklichkeit tritt also die bessere Anpassung der jeweiligen Wirklichkeitsfiktion an die zu erreichenden konkreten Ziele." Also Wirklichkeitskonstruktionen, Denk- und Verhaltensweisen zu entwickeln, die weniger Leiden oder Unannehmlichkeiten erzeugen.

Das geht sicher in die Nähe des Witzes vom Bettnässer, der auf die Frage, warum er denn auf einmal so fröhlich sei, ob denn die Psychotherapie bewirkt habe, daß er nicht mehr ins Bett mache, antwortete: "O ja, schon noch. Aber es macht mir nichts mehr." Ich glaube freilich, daß ein Großteil der Therapie-Erfolge (auch der physischen Beseitigung von Symptomen) nach diesem Muster zu erklären sind und durch neue Beliefs, Erklärungsmuster und Einstellungen zustande kommen. Eine Patientin: "So, wie ich die Lage sah, war es ein Problem. Nun sehe ich sie anders und es ist kein Problem mehr." Autopoiesis passiert eben auch dadurch, daß die "nachweisbare Wirklichkeit" der Konstruktion von ihr folgt.

Wenn nun jeder selbst seine Wirklichkeit konstruiert, liegt auf der Hand, daß ein Mensch einen anderen nicht verändern kann, auch der Therapeut den Klienten nicht. Auch er kann nicht feststellen, was richtig ist. Und der Konstruktivismus lehrt, wie bescheiden unsere Eingreifmöglichkeiten sind: man kann sich auf den Kopf stellen, zart vorgehen, hart rückmelden oder wütend werden - der Klient nimmt ohnehin nur das auf, was er zu dem Zeitpunkt gerade brauchen kann. Für den Klienten ist dies angenehmer (und m.E. effizienter), wenn er zwar verläßlich begleitet wird, Hinweise und Rückmeldungen erhält, aber seine Autonomie und Würde nicht angetastet wird.

"Mischen's Ihnen nicht in andere hinein, mischen's Ihnen lieber in sich selber hinein!" sagte Karl Valentin.

Das heißt aber auch: der Therapeut ist in der Regel nicht dafür verantwortlich, wenn die Therapie nichts bringt. In den ersten Jahren zweifelt man ja unentwegt an sich und fragt sich dauernd, was man hätte besser machen sollen. Und denkt, ein anderer - und da fallen einem auch Namen von Kollegen ein - die hätten's richtig gemacht und sicher mehr erreicht.

Und: man darf sich auch den Erfolg nicht an seine Kappe heften. In der Individualpsychologie (Adler,1911), in der ebenfalls die Selbstregulation besonders betont wird und die Überwindung von Minderwertigkeitsgefühlen ein wichtiges Thema ist, wurde vorgeschlagen, eine Therapiesitzungsserie vorzeitig zu beenden, damit durch das alleinige Vollziehen des letzten Schrittes das Selbstbewußtsein des Klienten gefördert wird. Der Klient soll direkt erleben, daß ER die Heilung/ Problemlösung herbeigeführt hat und nicht der Therapeut, der ihm dabei lediglich zur Seite stand.

Therapeutisches Vorgehen ist also auch nach konstruktivistischen Erkenntnissen sinnvoller Weise nicht direktiv und bevormundend, sondern respektiert ebenso wie die humanistischen Therapierichtungen die Selbständigkeit und Problemlösungskapazität des einzelnen resp. des Paares/ der Familie. Ja nach einer Reihe von Therapierichtungen sind die Symptome und sogenannten Probleme selbst ja bereits Lösungsversuche und als solche zu würdigen, auch wenn sie das Wohlbefinden nicht verbessert haben sollten.

Es empfiehlt sich auch von da her, einen Klienten nicht mit der Einstellung zu empfangen "Was bist Du nur für ein unfähiger Tropf, daß Du dies noch nicht geschafft hast!", sondern zu würdigen, was er bisher alles geschafft hat, ihn darauf hinzuweisen, daß er in Ordnung ist und daß das Problem nur einen (vielleicht kleinen) Teil seines Lebens ausmacht, wenn es auch z.Z. sein ganzes Gesichtsfeld einnehmen sollte und ihn auf seine natürlich in ihm wohnende Fähigkeit hinzuweisen, mit diesem Thema fertig zu werden. Wobei er vom Therapeuten dienend begleitet wird. Die erste Bedeutung des griechischen Wortes "therapeutes" heißt ja nicht "Heiler", sondern "Diener"!

Interessanterweise werden diese Sichtweisen auch von Gehirnforschern und NEUROBIOLOGEN bestätigt. Z.B. schreibt Roth (1994): "Das Gehirn kann zwar über seine Sinnesorgane durch die Umwelt erregt werden, diese Erregungen enthalten jedoch keine bedeutungshaften und verläßlichen Informationen über die Umwelt. Vielmehr muß das Gehirn über den Vergleich und die Kombination von sensorischen Elementarereignissen Bedeutungen erzeugen und diese Bedeutungen anhand interner Kriterien überprüfen. Dies sind die Bausteine der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, in der ich lebe, ist damit ein Konstrukt des Gehirns".

Der Biophysiker Von Foerster, einer der Hauptvertreter des Radikalen Konstruktivismus, schildert (1993) mehrere Situationen, in denen deutlich wird, daß wir sehen oder hören, was nicht da ist z.B. konstruiert unser Gehirn, was wir wegen des blinden Flecks des Auges nicht sehen. Er schreibt, daß die Sinneszellen, seien es die Geschmacksknospen der Zunge, die Tastsinneszellen oder all die anderen Rezeptoren, die mit einer Empfindung wie Geruch, Wärme und Kälte, Schall oder anderem verknüpft sind, sämtlich "blind" für die Qualität der Reize seien und lediglich auf deren Quantität ansprächen.

"Das mag erstaunlich sein," schreibt er, "sollte aber nicht überraschen, denn tatsächlich gibt es ja 'da draußen' weder Licht noch Farbe, es gibt lediglich elektromagnetische Wellen; es gibt 'da draußen' weder Schall noch Musik, es gibt nur periodische Schwankungen des Luftdrucks; 'da draußen' gibt es weder Wärme noch Kälte, es gibt nur Moleküle, die sich mit mehr oder minder großer mittlerer kinetischer Energie bewegen, usw. ... Schließlich gibt es 'da draußen' ganz gewiß keinen Schmerz".

Eine Wurzel des Radikalen Konstruktivismus liegt also in der gegenwärtigen Gehirnforschung und der Neurophysiologie, einem Gebiet, in dem ich nicht zu Hause bin, von dem ich aber interessiert lese: "Die wichtigste Eigenschaft des Gehirns ist es, die eigene Wirklichkeit zu erschaffen. Dafür nimmt es über 90 Prozent der Informationen aus dem eigenen Fundus und nicht über die Sinnesorgane von außen auf. Also muss das, was für wahr gehalten wird, bei jedem etwas anderes sein. Das Gehirn weist den an sich bedeutungsfreien neuronalen Prozessen die Bedeutung erst zu. Auch Raum und Zeit sind notwendige kognitive Ideen, aber keine erfahrbare Wirklichkeit. Die Unterscheidung von Innen und Außen existiert nur im Gehirn; ein Ich ist im Gehirn nicht nachzuweisen. Das separate Ich ist nur Einbildung."

III A propos "Ich". Wer länger meditiert, kennt diese Erfahrung, die einen fasziniert und erschüttert: die Auflösung des Ich, das Aufgehen in der All-Einheit. Unsere Kultur ist die einzige auf der Welt und in der Geschichte, die die Individualität in nie gekanntem Maße betont. Wir sind es gewohnt, uns als Einzelwesen, getrennt von allem anderen zu sehen.

Aus schamanischer Sicht ist dagegen alles Teil eines Ganzen. Diese Verbundenheit schließt nicht nur alle Menschen ein, sondern alles was existiert: auch Tiere, Pflanzen, Materie, den ganzen Kosmos, alles was existiert hat und existieren wird, vom Anfang bis zum Ende der Zeit.

Das reduziert meine Wichtigkeit als Therapeut. Auch weil davon ausgegangen wird, daß Heilung nicht mein Werk ist, sondern von ganz anderen Faktoren abhängt, deren Medium ich bin.

In allen Religionen und spirituellen Richtungen geht man ja bekannter Weise davon aus, daß das Meß- und Zähl- und Wiegbare nur ein Teil der Wirklichkeit ist und daß es darüber hinaus noch ganz andere Welten, andere Dimensionen gibt, die Einstellungen und Verhalten, Gesundheit und Krankheit, kurz den Lebensweg und das Schicksal jedes Menschen wesentlich mit beeinflussen.

SPIRITUALITÄT oder die TRANSPERSONALE PSYCHOLOGIE,

wie ihre therapeutische Seite in Psychologenkreisen genannt wird, läßt also das Gesagte nochmals in einem neuen Licht erscheinen. (Da ich die Berufung erhielt, Brücken zwischen religiösen, spirituellen Richtungen und westlicher Psychologie zu bauen, habe ich darüber auch ein wenig publiziert. Siehe die Aufsätze auf meiner Website www.thalhamer-haase.at)

In vielen spirituellen Weltbildern wird z.B. die fehlende Harmonie mit der übrigen Natur oder der göttlichen Ordnung als Ursache für Probleme/ Krankheiten/Störungen gesehen und bei der Behandlung häufig durch Rituale wieder in Ordnung gebracht.

Diese für uns zunächst schwer nachvollziehbaren Zusammenhänge werden schön beschrieben in der taoistischen Geschichte vom Regenmacher: In einem Dorf in China herrschte eine furchtbare Dürre. Als alle üblichen Methoden nichts fruchteten, holte man den berühmten Regenmacher aus dem fernen Dorfe. Er erbat sich ein kleines Haus am Dorfrand, die Mahlzeiten sollte man außen hinlegen und ihn auch sonst nicht stören. Als es nach Tagen noch immer nicht regnete und die Leute bereits ungeduldig wurden, ging die Tür auf und er trat heraus. Da zogen Wolken auf und ein herrlicher Regen erfrischte das Land. Die Menschen fielen auf die Knie und bewunderten den großen Regenmacher. "Ich bin gar keiner" antwortete der Fremde. "Aber ich sah, als ich ins Dorf kam, daß alle Leute außer sich und nicht im Tao waren. Auch ich wurde gleich davon ergriffen. So habe ich mich zurückgezogen, die Balance in mir wieder herzustellen. Und als ich soweit war, begann es zu regnen. Man kann den Regen nicht herbeizwingen. Aber ist man mit sich im reinen, kommt das Wetter, wie es soll."

Im Schamanismus, der ältesten, seit 30.000 Jahren praktizierten Heil- und Problemlösungsform, besteht die Aufgabe des Schamanen, als Mittler zu fungieren, als Medium dieser gewaltigen Energien, die in der Bibel z.B. als "Mächte und Gewalten" bezeichnet werden. Sie, nicht der Therapeut, bewirken die Heilungsschritte. Jesus v.N. heilte aus der Verbindung mit dem "Vater" heraus.

Das eigentliche therapeutische Agens ist in den verschiedenen spirituellen Heilungsformen weder der Klient, noch der Therapeut sondern ein TERTIUM, wie immer man sich dieses Dritte vorstellt:

Haben Schamanen seit Jahrtausenden mit Hilfe ihrer verbündeteten Geister erstaunliche Problemlösungen und Heilerfolge hervorgebracht, so wurde noch im 18. Jhd. Pfarrer Gassner als erfolgreicher Heiler mit Hilfe des Hl.Geistes bekannt. Mesmer nannte kurz darauf - gemäß der Aufklärung - dieses wirksame Dritte nicht mehr göttlich, sondern den "animalischen Magnetismus". In den humanistischen Psychotherapierichtungen wird diese Heilkraft als im Menschen liegendes riesiges, nur teilbewußtes Potential gesehen, das auch gehoben werden kann. Auch im Konstruktivismus betont man die in einem liegende Problemlösungskapazität.

M.E. ist es unerheblich, ob dieses Dritte in oder außerhalb von mir lokalisiert wird, und nur eine Frage seiner Wirklichkeitskonstruktion. Vermutlich handelt es sich um das selbe in verschiedenen "Sprachen".

Viele Phänomene werden zudem ganz anders, als wir es gewohnt sind, gesehen. Aus schamanischer Sicht ist es z.B. möglich, daß ein Verstorbener einen Lebenden besetzt, ihm die Seele raubt oder ihn in den Tod lockt. In Familienaufstellungsarbeit kommt es öfters vor, daß ein Teilnehmer einem Verstorbenen aus Liebe in Krankheit oder in den Tod folgt. M.E. ist der Unterschied nur eine Frage des Standpunktes und es kommt aufs Gleiche hinaus. Auch der Volksmund kennt beides: wenn etwa Vater und Sohn kurz hintereinander sterben, sagt man: "Den hat sich der Vater jetzt geholt." Aber auch: "Der Sohn ist ihm nachgegangen."

Der Schamane wird üblicherweise mit Hilfe seiner Guten Mächte den Verstorbenen bitten und mit ihm verhandeln, den Lebenden wieder loszulassen, wodurch auch der Tote befreit wird; dieser braucht dazu oft selbst eine Behandlung: meist muß man ihm helfen, machmal auch zwingen, sich in die Ordnung der Natur einzufügen.

Geheilt wird also mit Hilfe der Ressourcen, die in der Humanistischen Psychologie oft als die in uns innewohnende Fülle der Weisheit bezeichnet wird. Im Schamanismus werden sie als mächtige Geistwesen in den anderen Welten erlebt, die unser Bestes wollen.

Die Verbindung zu ihnen wird hergestellt durch Reduzierung des Denkens, durch Leer-werden, "the hollow bone", den hohlen Knochen, wie die Lakota in Nordamerika diesen Zustand nennen. Man tritt also mittels psychotroper Substanzen, meist aber lediglich mit Hilfe von Musik und Tanz in einen Trancezustand ein, indem man die verbündeten Geister um die Diagnose fragt und ob und wenn ja, wie man das Problem behandeln darf. Es kommt immer wieder vor, daß mir in Trance gezeigt wird, daß es bei diesem Patienten um etwas ganz anderes geht, als ich mir im Wachzustand gedacht hatte.

Bei einer meiner Visionen, durch die ich initiiert wurde, erhielt ich u.a. die Gabe der "Leidensübernahme". Etwas, das ich in dem Ausmaß als Psychotherapeut - wegen der Gefahr des Helfersyndroms - immer für sehr bedenklich gehalten hatte, obwohl "Empathie" (s.o.) ja ähnliches meint. Faktum ist, daß ich bei mehr als der Hälfte der schamanischen Behandlungen meist gleich nach dem Augenschluß, mit dem ich die Trance beginne, die Symptome des Behandelten am eigenen Leib und in meiner Seele spüre - mit dem Auftrag, daß das Problem gelöst sein wird, wenn ich es bei mir lösen (lassen) kann. Man richtet sich dabei streng nach den Aufträgen, die man erhält. Z.B. kommt es auch vor, daß man jetzt gar nichts für den Patienten machen darf.

Auch Teilnehmer in einer indianischen Schwitzhütte, können vorübergehend das Leiden des Patienten auf sich nehmen und nachher wieder in die eigene Haut zurückkehren, wie dies auch die Stellvertreter bei Aufstellungen tun, wo manchmal erst das Erleben des tiefen Schmerzes der Darsteller eine Wandlung beim Klienten auslöst.

Es ist eine Begabung, zu spüren, was in anderen los ist. Sie gehört meiner Ansicht nach aber (s.o.) gezähmt und geleitet: es ist sehr hilfreich, während der Behandlung genau zu spüren, wo das Thema sitzt. Aber am Ende läßt man alles wieder los, was am besten und am leichtesten durch Achtung geschieht. D.h. man respektiert, daß der Klient dieses Problem hatte oder hat und mischt sich in keiner Weise ein, ob er die Behandlung annimmt, ob er beim Problem bleibt und die Behandlung wieder rückgängig macht oder einen wesentlichen Schritt nach vorn tut. Man würde sich sonst überheben.

Fällt einem dies auf Grund seines eigenen Helfersyndroms schwer und hält man die Symptome des Patienten auch nach der Sitzung noch fest, ist es vielleicht notwendig, am Ende jeder Sitzung ein entsprechendes Ritual durchzuführen, wo man sich dafür bedankt, daß heilende Energien durch einen geflossen sind und man den Patienten achtungsvoll losläßt und ev. sich rituell reinigt. Normalerweise, wenn man sich selbst nicht so wichtig nimmt, ist man nachher nicht nur nicht erschöpft, sondern merkt, daß man von der Heilkraft, die einen erfaßte, auch nach der Sitzung noch etwas in sich spürt. Wie ein Wasserleitungsrohr (das sich ja nicht einbildet, das Wasser selbst zu erzeugen - dieses kommt ja ganz wo anders her) Wasser nicht nur weitergibt, sondern auch selbst dabei naß wird, also etwas bekommt.

Nach einer schamanischen oder Reiki-Behandlung spüre ich normalerweise immer etwas von dieser Energetisierung - was mich bewogen hat, mich auch bei den Psychotherapien mehr herauszuhalten, wodurch sie natürlich wesentlich weniger anstrengend werden, weil man ja "nur" als Medium für die göttlichen Heilkräfte fungiert. Das gilt aus meiner Sicht aber für jede Form der Heilarbeit.

Es stimmt: viel Schlimmes nimmt Platz in meinem Herzen und erschüttert und berührt mich zutiefst. Aber nach der Behandlung fühle ich mich selbst wie gereinigt und durchgeputzt, auch wenn ich in Tränen und Schreie ausbrach über das furchtbare Schicksal, das ich spürte und aufgenommen hatte. Eher kommen mir aber die Tränen, weil ich gerührt bin, daß solch gewaltige Energien durch mich hindurchfließen.

Die spirituellen Erfahrungen bestärkten mich also nochmals, meine Rolle als Therapeut und meine Absichten nicht so wichtig zu nehmen. Z.B. zu meinen höchsten Instanzen in der schamanischen Arbeit komme ich nur, wenn ich ABSOLUT ABSICHTSLOS bin, auch nicht die Problemlösung oder Heilung des Patienten will(!). Sonst kann ich das Tor dorthin nicht durchschreiten.

Es waren also vorwiegend diese drei Einflüsse, die für meine Einstellung und mein Verhalten als Therapeut entscheidend wurden;

o die personenzentrierte Richtung nach Rogers o der Konstruktivismus nach Glasersfeld und o der Schamanismus und die christliche Spiritualität.

Weil es ja de facto um eine entscheidende Zurückstellung des eigenen Ego geht, bringe ich diese Einstellungen im Alltag bei weitem nicht in der selben Weise fertig, wie mir das im therapeutischen Setting inzwischen meist gut gelingt.

Jede dieser Richtungen lehrt auf ihre Weise den Therapeuten die Hochachtung vor dem Klienten und warnt davor, ihn in eine bestimmte Richtung zu treiben. So ist es richtig, daß Varga von Kibèd Nichtwissen, Hilflosigkeit und Verwirrung als die drei großen Helfer für die Aufstellungsarbeit bezeichnet, die einen davor bewahren, die Führung zu übernehmen und eigenmächtig einzugreifen.

Entgegen der im Westen oft verbreiteten Sichtweise handelt es sich auch beim Schamanismus nicht um Zauberei, sondern es geht auch hier darum, demütig sich führen zu lassen. Schamanen verstehen sich als Diener eines Größeren, über sie Hinausgehenden. Dies geht so weit, daß man sich im Gegensatz zum Therapeuten nicht einfach für den Beruf entscheiden kann, wenn man nicht von den Geistern dafür gerufen und ausgewählt wurde.

Ich glaube ohnehin, daß das Entwicklungstempo wie sonst in der Natur auch beim Menschen vorgegeben ist. Ich muß meinem Kirschbaum im Dezember nicht sagen, daß er furchtbar ausschaut und jetzt endlich Blüten machen soll. Alles Pushen hilft nicht , ja es ist sogar kontraproduktiv, wenn ich an einem Pflänzchen anreiße, weil es mir zu langsam wächst.

Es reicht, wenn ich ihm Gutes will z.B. als Therapeut , daß ich für gute Wachstumsbedingungen sorge. Man kann es zwar behindern, das ist wahr, aber das Wachsen selber brauche und kann ich nicht erzeugen. Wir können gar nicht anders als wachsen. Das ist vorgegeben. Wir sind so. Und es wächst alles zu seiner Zeit.

Linz, im März 2004