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Rita Haase: Es ist niemals zu spät. 2001

Die Geschichte der Psychotherapie eines Krebskranken

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Die Geschichte der Psychotherapie eines Krebskranken

Von Rita Haase

Zusammenfassung: Wie auch ein als unheilbar krank Diagnostizierter noch in seinem letzen Lebensabschnitt Schritte zu innerem Frieden und Versöhnung machen kann.

Gerne hätte ich Herrn K. gebeten, seine Geschichte selbst zu schreiben, zumal er gerne und gut geschrieben hat. Da er es leider nicht mehr kann ­ er ist erst kürzlich verstorben ­ will ich versuchen, sie aus meiner Sicht zu erzählen. Ich hoffe, es ist mir gelungen, ihn so zu beschreiben, wie ich ihn erlebt habe: ein Mensch mit schlechten Startbedingungen, der in die Irre ging, weil er es nicht besser konnte, der aber mit erstaunlichem Mut, Kraft und Einsichtsvermögen einen neuen Weg eingeschlagen hat.

Herr K. fand nach mehreren, wieder abgebrochenen Therapieversuchen, zur Beratungsstelle "Zellkern". Wir führten im Herbst 1999 ein Erstgespräch. So erzählte mir Herr K. sein bisheriges Leben: Er war zusammen mit drei Halbgeschwistern bei seiner Mutter aufgewachsen, seinen Vater hatte er nie gekannt. Die Mutter kam selbst aus sehr armen Verhältnissen, hatte keinen Beruf erlernt, war immer nervlich sehr labil. Sie litt unter Migräne und hatte ein sehr schweres Leben, mußte sie doch die 4 Kinder praktisch alleine aufziehen, weil sich die jeweiligen Väter nicht um sie kümmerten. Herr K. war gelernter Maurer und hatte bis 1991 immer bei der Mutter gelebt, die ihn sehr verwöhnte und ihm alle Wünsche von den Augen ablas. 1991, als Herr K. 35 Jahre alt war, hatte seine Mutter einen schweren Schlaganfall und war seither gelähmt, konnte nicht sprechen und mußte in ein Pflegeheim. Bis dahin, so erzählte Herr K., hatte ihm die Mutter alles erledigt, ihm den Haushalt geführt, ihm Geld gegeben. Er hatte nur gelegentlich gearbeitet (er hatte mit 16 Jahren zu trinken begonnen und war alkoholabhängig). Die Mutter hatte sich in allem und jedem nach ihm gerichtet, er hatte sich dafür für ihr seelisches Befinden gekümmert, fast wie ein Partner.

Durch den Schlaganfall der Mutter war diese symbiotische Beziehung abrupt getrennt worden. Seitdem lebte Herr K. alleine, was ihm sehr schwer fiel; er besuchte seine Mutter mehrmals wöchentlich im Pflegeheim. 1998 wurde er schwer krank. Die Diagnose lautete Bauchspeicheldrüsenkrebs und bei der darauffolgenden Operation wurden ihm Teile der Bauchspeicheldrüse, des Magens, des Zwölffingerdarms , des Dickdarms und die Galle entfernt. Gleichzeitig mit der Operation (er wußte es auf den Tag genau) hatte er aufgehört zu trinken und war seitdem trocken.

In diesem ersten Gespräch schilderte Herr K. seine aktuellen Probleme: Depressionen, negative Gedanken, Angstzustände, Einsamkeit, Schmerzen. Alles hätte, so glaubte er, eine seelische Ursache. Er habe nie wirklich gelebt, wüßte nicht, wer er eigentlich sei und was er will. Er habe immer alles nur zugeschüttet. Er wolle gerne wieder Lebensfreude gewinnen, neue Kontakte aufbauen. Er meinte aber auch, er würde gerne Zugang zu seinem innersten Wesen finden, auch alleine gut zurechtkommen und mit sich selbst, seiner Krankheit und seinen Angehörigen (die ihn wegen seines früheren Alkoholkonsums massiv ablehnten) ins reine kommen.

Mir blieb in diesem ersten Gespräch nur, ihm meine Anerkennung dafür auszudrücken, daß er die erstaunliche Leistung vollbracht hatte, auf den Alkohol ganz zu verzichten. Daß er angesichts der Schwere seiner Erkrankung und der damit verbundenen Schmerzen nicht aufgegeben hatte, sondern anfing zu kämpfen, hat mir die größte Bewunderung abverlangt; zumal ihn anläßlich der Operation auch seine damalige Freundin verlassen hat.

So begannen wir mit unserer Arbeit, die sich insgesamt über etwa _ Jahr erstreckte. Ich möchte hier die aus meiner Sicht wichtigsten Schritte wiedergeben, die Herr K. auf seinem Weg zu einem positiven, zufriedenen und abgeklärten neuen (wenn auch letzten) Lebensabschnitt gelungen sind.

Zu Beginn unserer Arbeit kam mir das innere Bild, als wäre sein bisheriges Leben wie ein Haus, das nach einem Erdbeben eingestürzt ist, bei dem aber die Fundamente noch stehen. Herr K. bestätigte dies und meinte, diese Fundamente seien sein Glaube, Lebenswille und Mut. Nun müsse er es neu aufbauen, das erfordere Zeit und Geduld.

Sein Mut: Mit kleinen Schritten gelang es Herrn K. zunächst, sich aus der schlimmsten Passivität zu befreien. Er begann, sich täglich kleine Aktivitäten vorzunehmen, die die Stimmung positiv beeinflußten: Spazierengehen, Treffen mit den (noch verbliebenen) Freunden, Besuche, Fahrten in die Stadt, Kochen, Aufräumen. Zunächst fiel ihm alles sehr schwer, es kam immer wieder zu Rückschlägen und Anfechtungen, ins Alte zurückzufallen. Aber er gab nicht auf und mit der Zeit ging es leichter. Am schlimmsten empfand er die negativen Gedanken, die ihn zeitweise sehr quälten. Hier half ihm Ablenkung, Gespräche, aber auch ein von mir angeleitetes Entspannungstraining, das er täglich machte.

Sein Lebenswille: Die entscheidende Wende kam, als er ein Ziel für sein neues Leben fand. Es gelang ihm, aus den negativen Grübeleien zu entkommen und einen positiven Regelkreis in Gang zu setzen. Er ging zu mehreren Institutionen, die kranke Menschen betreuen, und bot seine Hilfe und Mitarbeit an. Daß dies ein positives Echo fand, gab ihm neuen Lebensmut. Zusammenfassend sagte er einmal: "Ich habe das, was ich mir insgeheim gewünscht habe, offen gesagt und versucht umzusetzen. Ich habe etwas getan, bin aktiv geworden. ­ Probieren geht über Studieren !" Stolz zeigte er mir einen ersten Artikel, den er für eine Vereinszeitschrift geschrieben hatte. Er hatte auch verschiedene neue Kontakte geknüpft.

Gleichzeitig verbesserten sich seine Beziehungen generell. Er berichtete, daß ihm rundum mehr Wohlwollen entgegengebracht würde. Er bekam auch von der Familie mehr Anerkennung und Unterstützung, was ihm guttat. Gleichzeitig gelang es ihm, seine eigenen Bedürfnisse mehr zu spüren. Er sorgte mehr für sich und seinen Körper.

Sein Glaube: Herr K. erzählte, seine Großmutter (die Mutter der Mutter) habe übersinnliche Fähigkeiten gehabt. Diese hätte er von ihr geerbt. Im Sommer 1999, als er am Tiefpunkt war und aufgeben wollte, habe er plötzlich eine klare Stimme neben sich gehört, die sagte: "Gib nicht auf, Gott hilft dir !" Er habe, so erkannte er in einem gemeinsamen Gespräch, einen "Abgesandten Gottes" an seiner Seite, der ihm hilft und ihn beschützt. Zu ihm betete er jeden Tag um Kraft und Hilfe. Er half ihm auch dabei, seine Schuldgefühle seiner Mutter und seinen Freundinnen gegenüber abzulegen (die er oft gedankenlos schlecht behandelt hatte). Ich durfte ihn dabei begleiten, wie er neue Einsichten in sein altes Leben gewann und inneren Frieden und Versöhnung fand. Wie tiefgreifend dieser Versöhnungs- und Veränderungsschritt war, konnte ich u.a. auch daran erkennen, wie respektvoll er mich als Frau und Gesprächspartnerin behandelt und wie verläßlich er sich an unsere Vereinbarungen gehalten hat.

Ich habe Herrn K. das letzte Mal ca. 4 Monate nach Abschluß der Therapie gesprochen, da ging es ihm unverändert besser. Leider habe ich gehört, daß er etwa ein Jahr später gestorben ist. Die körperlichen Schäden waren offensichtlich doch zu groß. Trotzdem weiß ich, daß er als ein neuer Mensch ins andere Leben hinübergegangen ist und daß ein Abgesandter Gottes ihn begleitet hat.

Rita Haase, August 2001