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Sein oder nicht sein 2000

Die Toten in der Familienaufstellung vs. beim schamanischen Heilritual

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Die Toten in der Familienaufstellung vs. beim schamanischen Heilritual

Zusammenfassung: Handelt es sich bei Aufstellungen um die realen Verstorbenen resp. ihre Seelen, wie man es schamanisch erklären würde, oder um die Darstellungen innerer Bilder? Meine These: für die Praxis spielt es keine Rolle, wie die Frage beantwortet wird, die ohnehin seriöserweise nicht beantwortet werden kann. Offensichtlich kann man die selben Phänomene so oder so beschreiben, wie in zwei Beispielen aus der Praxis aufgezeigt wird.

In der ganzen Philosophiegeschichte hat man sich immer wieder die Frage gestellt: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? In neuerer Zeit hat Siegmund Freud mit seinem Konzept der "Projektion" uns, die wir gern wüßten, was wirklich ist, arg verärgert. Vollends verunsichert nun der konstruktivistische Ansatz mit seinem Begriff der "Autopoiese" (siehe Maturana/Varela: Der Baum der Erkenntnis.- 1987). Wenn sogar die materielle Wirklichkeit durch innere Bilder / Gedanken / Vorstellungen beeinflußt/ erzeugt werden kann, und zwar nicht nur z.B. Kniezittern durch Angst sondern auch Vorgänge außerhalb der eigenen Person z.B. die Ergebnisse eines Zufallsgenerators, wie gut belegte Versuche von H. Schmidt zeigen (zitiert in Eysenk/Sargent: Explaining the Unexplained.- 1982), kommen ärgerlicherweise gewohnte Kausalitäten und die Newtonsche Mechanik ins Wanken.

Für die ältesten Vorfahren von uns Psychotherapeuten, die Schamanen der Naturvölker, ist es selbstverständlich, daß sie mit Hilfe realer Wesen aus den anderen Welten reale Seelen behandeln, sowohl von Lebenden, für die sie z.B. Heilrituale veranstalten als von Verstorbenen z.B. um sie nach dem Tod in die Anderswelt hinüberzugeleiten (siehe Paul Uccusic: Der Schamane in uns.- 1991) Der Zugang zu dieser Nicht-alltäglichen-Wirklichkeit wird hergestellt im Trancezustand.

Auch in den meisten Hochreligionen geht man von der Selbstverständlichkeit einer real existierenden Seele des Einzelmenschen aus, für die man ebenfalls von seiten der Lebenden etwas tun kann.

Wir Psycho-logen müßten eigentlich als Seelenkundige über den Atem des Lebens (ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes "psyche") besonders gut Bescheid wissen, aber wir sind uns nur einig, daß es (zur Unterscheidung z.B. von körperlichen) seelische Phänomene gibt, nicht aber, ob es überhaupt eine Seele gibt und reden lieber von Persönlichkeit etc.

Viele Menschen interessiert aber, ob es ein individuelles Seelendasein, das den Körper überdauert, gibt. Und man möchte da sicher sein und Projektionen, Konstruktionen eindeutig von der Wirklichkeit unterscheiden. Und schon gar nicht möchte man als FamilienaufstellerIn z.B. mit SchamanInnen in einen Topf geworfen werden, die nicht nur solche Wirklichkeiten für bare Münze halten, sondern behaupten, mit Seelen Verstorbener Kontakt aufnehmen zu können und von der Möglichkeit der gegenseitigen Beeinflussung ausgehen.

Ist diese Frage überhaupt beantwortbar?

Abgesehen davon, daß wesentliche Glaubenssätze der Naturwissenschaft, so wie sie bei uns aufgefaßt wird, betroffen sind, würde es, zugegeben, auch meine intellektuelle Neugier befriedigen zu wissen, ob es sich bei Aufstellungen um äußere Entitäten oder "nur" um innere Repräsentationen handelt.

Bloß: Wer könnte seriöserweise behaupten, daß es sich in Familienaufstellungen um die real Verstorbenen oder ihre Seelen handelt? Und: Wer könnte dies seriöserweise bestreiten? Wir wissen es nicht, obwohl wir zB. in der Gestalttherapie oder bei Familienrekonstruktionen seit vielen Jahren damit arbeiten. Wir können ja mit den derzeitigen wissenschaftlichen Methoden nicht einmal für viele von uns so selbstverständliche transpersonale Vorgänge erklären, zB. wieso ein Gruppenmitglied, sobald es einer Rolle zustimmt, stimmige Aussagen machen kann, oft dieselben Formulierungen verwendet wie der Dargestellte und ansatzweise die Symptome der dargestellten Person spürt, ohne vorher davon gewußt zu haben.

Darüberhinaus gab es immer Richtungen, die alles getrennt Existierende, auch das menschliche Individuum, als Emanation eines großen Ganzen, von Plato als "Weltseele" bezeichnet, ansahen und ohnehin jedes einzelne als nur scheinbar einzeln betrachten. Oder als etwas aus der Einheit ins Individuelle Tretende und mit dem Tod wieder ins Einssein Zurückkehrende. Für manche ist die Individuation nicht nur scheinbar, sondern die Ursünde des Menschen, durch dieses Ich sein zu wollen wie Gott (Willigis Jäger: Suche nach dem Sinn des Lebens.- 1997).

Interessanterweise erzählen die Mystiker verschiedener Religionen, daß sie in ihren Visionen und spirituellen Erfahrungen ebenfalls die Auflösung des Individuums im Göttlichen erleben und sie halten dieses für die eigentliche Realität, den"Grund", wie z.B.Tauler im 14.Jhd. sie nennt.

Bei aller Neugier zu wissen, was wirklich ist: für die Heilpraxis scheint die Unterscheidung unerheblich zu sein. Interessanterweise hat es die gleiche Wirkung, ob jemand bei Aufstellungen die Verstorbenen real oder als Teile innerer Bilder auffaßt, ja überhaupt welches Gedankengebäude benützt wird.

Was den Skeptiker in mir unruhig macht, stört meine Heilpraxis überhaupt nicht, weil ich mich auf das verlasse, was wirkt. Hat nicht das Wort "Wirklichkeit" ohnehin mit "Wirken" zu tun? Bestärkt werde ich immer wieder durch unerwartete Erfahrungen, von denen ich hier zwei berichten will:

1.) Familienaufstellung bei schamanischer Reise

Vor einiger Zeit hatte ich ein erstaunliches Erlebnis bei einer Shamanic Counseling Sitzung, einer Methode, die von Michael Harner vorgeschlagen wurde: Hierbei sprechen die Klienten bei einer Schamanischen Reise (das ist die schamanische Meditationsform) ihre Erlebnisse während der Trance laut aus und werden auf Tonband aufgenommen. Der Berater hört mit und führt anschließend ein kurzes klientenzentriertes Nachgespräch, ohne zu deuten etc.

Ich arbeite öfters in dieser Form, besonders dann, wenn mir die Erhöhung von Eigenverantwortung und das Nützen der eigenen Ressourcen als nächst wichtiger Entwicklungsschritt erscheint. Ich mache die Klienten darauf aufmerksam, daß die Sprache in diesen anderen Bewußtheitszuständen der entspricht, die sie aus Träumen und Märchen kennen. So sind sie dann weniger darüber verwundert daß z.B. Tiere sprechen können etc.

Diesmal aber erlebte eine Klientin in Trance eine richtige Familienaufstellung, obwohl sie vorher noch nie davon gehört oder gelesen hatte. Ullas Ziel der Reise war: "Ich möchte Frieden in meiner Kernfamilie, besonders zwischen meinem Vater und meiner Schwester."

Ulla reiste in die "Obere Welt", d.h. nach weit verbreiteter schamanischer Auffassung in den Bereich der spirituellen Welten, wo man von seinen spezifischen Geistwesen geführt und gelehrt wird. In der Sprache und Vorstellungswelt der humanistischen Psychotherapie-Richtungen würde man von der Weisheit und dem Potential des Unbewußten sprechen, zu dem man meditativ oder unter Anleitung des Therapeuten Kontakt aufnehmen kann. Im NLP ist dies bekannt als Quellentrance bzw. als Reise zum inneren Führer. In der Oberstufe des Autogenen Trainings als Weg auf die Bergeshöhe, wo es sich eingebürgert hat, die/den weise/n Einsiedler/in aufzusuchen und um Rat zu fragen. In der Silva Mind Control- Technik entspricht es der Arbeit im Labor.

Macht man es in Anlehnung an die Tradition der Schamanen, folgt man den Trommelschlägen (hier über Kopfhörer), begibt sich in der Vorstellung auf einen guten Platz in der freien Natur und von dort hinauf in die Obere Welt.

Kaum war Ulla in ihrer Vision oben angelangt, sah sie alle Mitglieder ihrer Herkunftsfamilie und sich selbst in einer bestimmten Konstellation je auf Podesten stehen. Wie wir es bei Aufstellungen machen, wies ihre spirituelle Führerin die jetzige Partnerin ihres Vaters an, sich vor dessen erster Frau (der Mutter der Klientin) leicht zu verneigen, worauf diese erfreut zurücklächelte - für die Klientin eine besonders bewegende Szene.

Daraufhin sollte die Schwester der Klientin ihrem Vater die Ehre geben und sich bei ihm entschuldigen. Interessanterweise hatte sich Ulla beim Vorgespräch versprochen, als sie berichtete: "Meine Schwester sagt: 'Warum soll er sich ändern?' "

Nachdem die Schwester den Vater geehrt und sein Wohlwollen erhalten hatte, wurde durch die spirituelle Führerin eine Umgruppierung vorgenommen, indem alle Familienmitglieder von ihren Plätzen gehoben, ins Wasser geworfen und heftig durcheinandergewirbelt wurden.

Die Turbulenzen dauerten eine Zeit lang und wurden von Ulla als recht bedrohlich erlebt. Hernach standen alle Familienmitglieder und die neue Partnerin des Vaters einander in anderer Konstellation gegenüber, Ulla freundlich und in Verbundenheit neben ihrer Schwester. Jede/r hatte seinen/ihren guten Platz gefunden. Wie es sich ziemt, bedankte sich Ulla bei ihrer spirituellen Führerin, verabschiedete sich und kehrte mit diesem guten Bild auf ihren Naturplatz und dann in den Behandlungsraum zurück. -

Man könnte das Phänomen vielleicht so erklären, daß ich danebensaß, mir dachte, da wäre eine Familienaufstellung indiziert und vor jedem Schritt, der gemacht wurde, spürte, daß jetzt dieser gut passen würde. So ähnlich, wie Klienten von Freudianern Freud´sche Elemente träumen, bei Jungianern archetypische etc. Allerdings hatten wir vorher nicht davon gesprochen.

Vielleicht zeigt sich in dieser Erfahrung die Allgemeingültigkeit der Aufstellungsprinzipien, sodaß sie auch ohne stellvertretende Personen durch die Weisheit des Unbewußten (bzw. schamanisch gesprochen: durch verbündete Wesen in den anderen Welten) ans Licht gebracht werden können. Vielleicht ein Hinweis auf die Verbindung von Aufstellungs- und spiritueller, in diesem Fall schamanischer Arbeit, die ja auch von Bert Hellinger betont und von vielen Aufstellern erlebt wird.

Stammeskulturen sind diese systemischen Zusammenhänge ohnehin selbstverständlich, wie ich bei einer Familienaufstellung, die ich mit einer tuvinischen Familie in Kyzyl, Sibirien, hielt, selbst erleben konnte.

2.) Schamanische Psychopomposarbeit bei Familienaufstellung

Als zweites Beispiel möchte ich eine interessante Aufstellungsarbeit meiner Frau Rita Haase berichten und wie diese Vorgänge schamanisch zu erklären sind:

Eine fünfzigjährige Lehrerin erzählt im Vorgespräch, daß sie im Vorjahr die Photos ihrer mit 4 Jahren verstorbenen Tante, der Schwester ihres Vaters, verbrannt hatte. Ausgemistet, wie sie sagte. Als ihr Vater als junger Mann im Krieg fällt, kommt die Patientin, sie ist vier Jahre alt, zu den Großeltern, denen sie offensichtlich ihre in diesem Alter verstorbene Tochter ersetzt.

Wie üblich werden die Patientin und ihre Familienmitglieder durch andere Gruppenteilnehmer dargestellt. Da passiert das Interessante, daß sich die Patientin und die Tante als eins erleben. Die Stellvertreterin der Patientin sagt: "Ich und die Tante sind eins." Als Rita, die die Aufstellung leitet, darauf die Darstellerin der Tante fragt: "Ist Dir das recht?", antwortet diese: "Ja, das ist mir recht. Ich bin so lebendig, ich bin gar nicht tot!" Die Darstellerin der Patientin hustet und spuckt währenddessen und spürt einen starken Druck auf der Brust. Die Tante war vermutlich an Lungenentzündung gestorben.

Die Frau war dermaßen mit ihrer Tante identifiziert (psychologisch ausgedrückt) bzw. (in der schamanischen Ausdrucksweise) von ihrer Tante besetzt, daß sie ihre Großeltern, also die Eltern der Tante, immer wieder als ihre Eltern bezeichnete. Von Rita mehrmals darauf angesprochen, sagt sie: "Witzig, aber ich habe das Gefühl: das sind meine Eltern."

Im Verlauf der Sitzung will die Tante ihre Nichte lange nicht loslassen und tut dies erst, als sie selbst von ihren Eltern als Kind geliebt und ihr früher Tod gewürdigt wird. Daraufhin ist sie erlöst, zieht sich zurück und die anwesende Patientin ist frei.

Nach Hellinger handelt es sich um eine unbewußte Verstrickung, die durch Achtung vor dem Schicksal der Verstorbenen aufgelöst wird und indem die Tante erhält, was sie dringend brauchte.

Das selbe Phänomen ist aber auch aus der schamanischen Heilarbeit bekannt, nur würde man hier die Identifizierung der Patientin als Besessenheit durch ihre Tante bezeichnen. Als Schamane würde man dies in Trance sehen, mit der Tante verhandeln, daß sie die Seele ihrer Nichte frei gibt und sie in die anderen Welten hinübergeleiten. Das Phänomen, daß Verstorbene noch gar nicht wissen, daß sie tot sind, ist in der schamanischen Tradition wohlbekannt. Man faßt das so auf, daß sie in dieser Welt hängen geblieben sind, die häufig als die mittlere zwischen der oberen und der unteren Welt beschrieben wird. In der schamanischen "Psychopomposarbeit" werden sie dann liebevoll in die Welt der Toten hinübergeleitet, wodurch dann eine allenfalls besetzte Seele eines Lebenden wieder frei wird.

Welche Erklärung stimmt nun?

Müssen unsere Erklärungen stimmen?

Ich selbst lasse die Frage offen. Ich selbst arbeite sowohl mit religiösen wie mit schamanischen und psychotherapeutischen Behandlungsformen und vertrete die Sichtweise, daß sich dieselben Phänomene in verschiedenen Sprachen ausdrücken lassen - inkl. der Traditionen, der damit verbundenen Bilderwelten, gedanklichen Konstruktionen und Gefühle. Ich könnte nicht sagen, welche stimmt oder ob überhaupt eine stimmt. Das stört aber meine Heilpraxis nicht, weil ich mich auf das verlasse, was wirkt.

Es ist seriöser, die eigene Nomenklatur und das dazugehörige Gedankengebäude und die Wirklichkeitskonstruktionen anderer zu respektieren und sie allesamt kritisch zu bezweifeln. Was sicherlich eine gewisse Demut verlangt.

Was ist so schlimm daran, daß wir die Wirksamkeit unserer Methoden nur zum Teil erklären können? Grawe et al. ( Psychotherapie im Wandel.- 1995) haben interessanterweise herausgefunden, daß bestimmte Psychotherapietechniken hochwirksam sind, aber ihre Wirksamkeit nur zum Teil auf die Erklärungen der Psychotherapierichtungsbegründer zurückzuführen sind.

Ich kann auch Auto fahren, ohne ganz genau erklären zu können, wie mein Motor funktioniert. Andere können es. In fünfzig oder fünfhundert Jahren können andere vielleicht auch unsere heutigen Fragen beantworten. Bis dahin können wir gelassen forschen und mit unserem bescheidenen Wissen demütig weiterarbeiten.

"Die aber,
die durch das wissende Nichtwissen
vom Hören (auf festgelegte Traditionen) zur Schau des Geistes gebracht werden,
freuen sich darüber,
das Wissen des Nichtwissens
durch sichere Erfahrung
erlangt zu haben."

Nikolaus von Kues

August Thalhamer, Februar 2000